Wer ist das Volk? Die Vermessung der Demokratie – Spannungen im zivilgesellschaftlichen Bewusstsein

978-3-89376-170-8Für die Erneuerung und Ausweitung der Demokratie in Europa setzt sich die erstmals zur Frankfurter Buchmesse 2016 erschienene Buchzeitschrift „Latenz“ ein. Das Journal für Philosophie und Gesellschaft, Arbeit und Technik, Kunst und Kultur wird von einer fünfköpfigen Fachredaktion geleitet. Dreißig international renommierte Fachexpertinnen und Fachexperten aus Frankreich, Polen, Österreich, Kroatien und Deutschland bilden einen kompetenten Beirat. Der Schwerpunkt der ersten Ausgabe legt Antworten auf die Frage vor „Wer ist das Volk?“ und leistet Beiträge zur Neuvermessung der europäischen Idee der Demokratie.

„Nach mehr als 25 Jahren verlegerischer Tätigkeit auf dem offenen Feld des Sachbuches sehen wir den Bedarf nach einer Buchzeitschrift, die das aufklärerische Denken aus Philosophie und Sozialwissenschaften mit gesellschaftspolitischem Handeln verbindet,“ betonen die Herausgeber Irene Scherer und Welf Schröter: „Es geht einerseits um die Verteidigung und Aufhebung der Werte der „Trikolore“ als Erbschaft der Citoyennes und der Citoyens, um Sichtung des Unabgegoltenen und scheinbar Verschollenen, um die Wiederentdeckung enttäuschter ungleichzeitiger Hoffnungen als Gärstoff für Besseres. Zugleich rückt die Weiterentwicklung der Gegenwart zugunsten einer Humanisierung des Menschen unverändert auf die Tagesordnung.“

Das Journal „Latenz“ will ein Debatten-Forum sein. Autorinnen und Autoren unterschiedlicher Fachdisziplinen und gesellschaftlicher Gruppierungen sollen eine Plattform erhalten, auf der innerhalb eines breiten Themenspektrums zwischen Gesellschaftstheorie und historisch-politischer Analyse, ökonomischer Prognose und ästhetischer Kritik versucht werden soll, die Gegenwart zu vermessen, deren innere Dynamik aufzuspüren und auf ihr eventuell emanzipatorisches Potenzial hin zu befragen.

Buchangaben 

Auftritt eines neuen „Triadischen Balletts“ aus cyber-physischen Systemen?

Erinnerungen an Oskar Schlemmers "Triadisches Ballett". (Foto: © Welf Schröter)

Erinnerungen an Oskar Schlemmers „Triadisches Ballett“. (Foto: © Welf Schröter)

Wenn im 21. Jahrhundert Kommunikation auf Kreativität und Kunst trifft, wenn Virtualisierung die Arbeit und das Leben im Alltag erreicht, beginnen sich Mensch und Maschine auf ein neues verändertes und veränderndes Miteinander einzulassen. Technisch entmaterialisierte Kommunikation greift nach dem Modus der Wahrnehmung und verschiebt die Grenzen zwischen haptisch-sinnlichem und optisch-sinnlichem Empfinden, um im Virtuellen ein neues Fundament zu errichten. Letzteres entfaltet sich alsbald zum Tanzboden von künstlichen Artefakten, die – den Menschen simulierend – an seiner Stelle tätig werden.Das unsterbliche Ballett der cyber-physischen Systeme gibt den Schwan und meint doch eher die Seeräuber-Jenny, ohne zu verkünden, dass dieses Ballett die Grenzen der Zeit in Richtung sich wiederholender Echtzeit zu überschreiten sucht. Die Kunstschaffenden für den symbolischen Tanz des Digitalen streben nach dem Ausbruch aus dem Konventionellen, eine neue Konvention schaffend. Das Publikum träumt von der befreienden Entgrenzung, um dann doch eher nur vordere Parkettreihen zu besetzen. „Die Zukunft ist auch nicht mehr das, was sie einmal war.“ (Karl Valentin)

Damals im frühen 20. Jahrhundert fand am 22. September 1922 in Stuttgart die Uraufführung des „Triadischen Balletts“ in den Räumen des Württembergischen Landestheaters Stuttgart statt. Der Bauhaus-Künstler Oskar Schlemmer hatte das Ballett als Illustration des Umbruchs aus der wilhelminischen Starrheit hinein in die fluide Moderne geschaffen und inszeniert. Oskar Schlemmers damalige Freunde Felix und Helene Löwenstein wie auch Lily Hildebrandt waren begeistert. Im Programmheft zum 22. September 1922 hieß es technik- und zukunftsverliebt:

„Das Triadische Ballett, Tanz der Dreiheit, das mit dem Heiteren kokettiert, ohne der Groteske zu verfallen, das Konventionelle streift, ohne mit seinen Niederungen zu buhlen; zuletzt Entmaterialisierung der Körper erstrebt, ohne sich okkultisch zu sanieren, soll die Anfänge zeigen …“

In der großen Schlemmer-Ausstellung 2015 in Stuttgart las sich ein Textschild anknüpfend wie folgt:

„Im Programmheft zur Uraufführung wird das ,Künstliche‘ als Quelle von Wahrheit und Schönheit betont und als Gegensatz zum Streben nach ,Wirklichkeit‘ – sprich Individualismus – in der Kunst gesehen.“

Oskar Schlemmers Traum eines Gesamtkunstwerkes, das den Linien der Abstraktion, der Zeitlosigkeit und der Modernität folgt, entsprang dem Willen, „das Metaphysische zu binden“ (Schlemmer). Vor dem Hintergrund der heutigen industrieverbundenen Kreativwirtschaft mit ihren CPS-Personae erscheint Schlemmers Verhältnis zur Technik wie ein Kapitel Unabgegoltenheit in der Erbschaft der Humanisierung des Menschen. Wie schrieb er doch 1922 zukunftstrunken und faktisch schon Gedanken der heutigen humanoiden Robotik vorwegnehmend:

„Die Mittel jeder Kunst sind künstliche und jede Kunst gewinnt, wenn sie ihre Mittel erkennt und bejaht. … Chaplin wirkt Wunder indem er ganz künstlich ist. Ob die Mechanisierung des Lebens von heute durch Maschine und Technik, gegen die sich die Sinne nicht verschließen können. Auch die Maschine Mensch und den Mechanismus Körper nachdrücklich fühlbar und bewusst werden lässt.“

Ein neuer grundlegender Wandel von Arbeit und sozialem Zusammenhalt, von „E-Society“ und Robotik wandert in die alltäglichen Vorstellungswelten der Citoyennes und Citoyens der Gegenwart. Nicht der Tanz auf dem Vulkan sondern ein neues „Triadisches Ballett“ fordert heraus, will Neues, bringt Altes mit, aktualisiert Ungleichzeitiges und enthebt auf der Bühne den Menschen seiner „Invariante der Richtung“ (Bloch). Das CPS-Ballett folgt dem Crescendo-Ruf: Vom „Pas de deux“ zum choreografierten „Ballet d’action“, ohne „Cabriole“ und ohne „Contretemps“.

Als Künstler der rebellischen „Üecht-Gruppe“ schrieb Oskar Schlemmer am 15. November 1919 in einem Flugblatt: „In der Kunst ist lernen gleichbedeutend mit leben wollen.“ Fast einhundert Jahre später wäre anzufügen, dass die cyber-physischen Ballett-Schuhe vor dem Betreten der Bühne anzuziehen sind.

Ist heute im Angesicht der CPS die „Entmaterialisierung“ der Körper eine „konkrete Utopie“, die der Humanisierung des Menschen näher kommt, oder liegt in der Entkörperlichung ein Stück nachholende Vergangenheit, die mehr rückwärts verweist als nach vorne öffnet? – Oskar Schlemmer wird es wohl gewusst haben.

Wenn das Ich mit sich nicht mehr im Einklang steht – Ein thesenhaftes Gedankenlabyrinth

Konvergenz der Ichs oder antipodischer Janus. (Foto: © Welf Schröter)

Konvergenz der Ichs oder antipodischer Janus. (Foto: © Welf Schröter)

Mit zunehmender Geschwindigkeit verändert der neue Typ von Digitalisierung ganzheitlicher Geschäfts- und Arbeitsprozesse über Betriebsgrenzen hinweg unser Verständnis von Arbeit und unser Befinden in der digitalen Transformation der Gesellschaft. ,Arbeit 4.0‘ wirft ihre Schatten voraus.

In der Arbeitswelt stehen sich hinter dem Rücken des Schaffenden das ,biografische Ich‘ und das ,virtuelle Ich‘ in einer widersprüchlichen Dualität gegenüber. Beide zusammen markieren die Eckpunkte der Identitätsarbeit des zu emanzipierenden Subjekts.Das menschliche Subjekt gerät dabei unter Echtzeitbedingungen in das Spannungsgefüge von Realität und Virtualität, von fiktiver Realität und realer Virtualität. Trägt dies zu einem Mehr an gesellschaftlicher und individueller Emanzipation bei oder erwächst daraus ein bislang unbekanntes Hemmnis, das sich dem Wert ,Selbstbestimmung‘ strukturell entgegenstellt?

Es ist nach jetziger Vorabschätzung davon auszugehen, dass die individuelle ,Identitätsarbeit‘ der nahen Zukunft dauerhaft durch die Spannung zwischen ,biografischem Ich‘ und ,virtuellem Ich‘ konfiguriert wird. Identität wird fragmentiert aus beiden Teilen bestehen. Daraus ist zu folgern, dass die Herausbildung einer ganzheitlichen Identität – als Verknüpfung der alltagsweltlichen realen Lebenslage mit der an Bedeutung gewinnenden ,virtuellen Lebenslage‘ – zu einem Schlüsselthema der kommenden wirtschaftlichen und sozialen Modernisierungsprozesse werden wird und werden muss.

Diese operative Ungleichzeitigkeit des prozessualen Arbeitens fordert vom Subjekt, vom Individuum, die Ungleichzeitigkeiten des kulturellen Erfahrens und Bewusstwerdens nicht nur als ein vorübergehendes Phänomen anzusehen, sondern in diesem Phänomen eine auf Dauer angelegte Identität/Nicht-Identität zu erkennen.

Es ist zu wiederholen: Das ,biografische Ich‘ verhält sich zu seinem ,virtuellen Ich‘ ungleichzeitig.

Die ganzheitliche Identität eines arbeitenden, schöpferisch tätigen Menschen wird zunehmend von dem Hybrid aus ,biografischem Ich‘ und ,virtuellen Ich‘ gebildet. Der Begriff der ,Identität‘ wird in den kommenden Jahren zu einem Schlüsselbegriff der Aufhebung von Entfremdung, der Humanisierung der Arbeit und zivilgesellschaftlichen Emanzipation werden. Das Themenfeld ,Identität in der Virtualität‘ wird zur gesellschaftlich-öffentlichen Gestaltungsaufgabe. Das ,Ich‘ sucht ,Heimat‘.

„Nicht alle sind im selben Jetzt da, sie sind es nur äußerlich dadurch, daß sie heute zu sehen sind, dadurch aber leben sie nicht mit den anderen zugleich. Sie tragen vielmehr Früheres mit, das mischt sich ein. Je nachdem wo einer leiblich, vor allem klassenhaft steht, hat er seine Zeiten. Ältere Zeiten als die heutigen wirken in älteren Schichten nach. Leicht geht oder träumt es sich in ältere zurück“ [Ernst Bloch].

 

Für die Humanisierung der Welt

Thilo Götze Regenbogen (Foto: © Welf Schröter)

Thilo Götze Regenbogen (Foto: © Welf Schröter)

„Er hat ein Leben voller Forscherdrang, Kreativität, Liebe und Hingabe geführt. Sein Werk und sein Einfluss wirken weiter.“ Mit diesen klaren wie eindringlichen Worten übermitteln die Familie und die Angehörigen von Thilo Albrecht Götze Regenbogen die traurige Nachricht seines allzu frühen Todes.Im Alter von 66 Jahren starb ein Freund, Autor, Künstler, Rechercheur und interessierter Kenner des jeweiligen Lebenswerkes von Karola Bloch und Ernst Bloch. Während Thilo noch bis zuletzt gedanklich an neuen Schaffensprozessen und Editionsarbeiten hing, gab sein Körper den Kampf auf. Thilo Götze Regenbogens Leben endete am 30. April 2015.

Neben verschiedenen künstlerischen Schwerpunkten beschäftigte sich „TGR“ mit den Lebenswegen der Hitlergegnerin Karola Bloch, mit dem Maler Ludwig Meidner und mit dem der Blochschen Philosophie nahestehenden Künstler und DDR-Kritiker Carlfriedrich Claus, mit der unermüdlichen Schaffenskraft von Joseph Beuys sowie mit dem literarisch-politischen Schaffen des DDR-Oppositionellen und Bloch-Schülers Jürgen Teller.

In seinem einschlägigen Beitrag über Karola Bloch und Ludwig Meidner schrieb er – sich selbst verortend: „Die von Jugend an künstlerisch und politisch engagierte polnische Jüdin und Widerstandskämpferin Karola Piotrkowska-Bloch (1905-1994) ist seit der Remigration in die Bundesrepublik im Jahre 1961 zusammen mit ihrem Mann, dem Philosophen und Autor einer historischen Enzyklopädie der Hoffnung Ernst Bloch (1885-1977), nicht nur zu einer Symbolfigur der Friedens- und Emanzipationsbewegung der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts geworden. Beide Blochs standen für eine unabhängige undogmatische Linke und arbeiteten für einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz, Karola als ,die große alte Dame der Linken‘ – um mit Jürgen Teller zu sprechen.“

Thilos Herangehen an neue Fragen war offen und unkonventionell. Er liebte es, neugierig zu sein. Nach innen wie nach außen. Er wollte das Unmögliche denken, es sehnsuchtsvoll vorahnen, es erkennen. Die Blochsche Genesis am Ende des Werdens des Menschen verband er mit seiner ganz eigenen Sicht. Unvergessen bleibt seine künstlerische Präsentation im Ernst-Bloch-Zentrum in Ludwigshafen.

Thilo war ein Freund der humanen Emanzipation. Sein Wirken galt und gilt der Humanisierung der Welt. Jene, denen er Freund war, sind ihm dabei Freunde geblieben.

 

Konstruktion und De-Konstruktion von Identität

(Foto: © Welf Schröter) Konfrontationen der Identität - Konfrontationen der Architektur

(Foto: © Welf Schröter) Konfrontationen der Identität – Konfrontationen der Architektur

Ist die Herausbildung von Identität „ein lebenslanger Prozess der Konstruktion und Revision von Selbstbildern“? Erreicht der Mensch „Identität“ oder bestenfalls „Identitäten“? – In einer modernen Welt soll und muss Identität widersprüchlich sein, soll und muss Identitätswechsel erlaubt sein. Identität ist somit formbar und veränderbar. Parallel zum arbeitsweltlich-philosophischen Diskurs über „Identität in der Virtualität“, bei dem Identitätsbildung aus der Digitalisierung und Virtualisierung von Industrie- und Dienstleistungsarbeit abgeleitet werden soll, gab die Staatliche Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart Impulse zur Identitätsdebatte aus künstlerischer und musikalischer Arbeitsperspektive. In ihrer Zeitschrift „Spektrum #23“ durchstreiften Schaffende unterschiedlichster Fachumgebungen ihren Alltag, um Identitätsstiftendes zu finden. Deren Lektüre regt zur konstruktiven Aufhebung an.

„Du wirst, was Du tust“, ruft es aus der tanzenden Musik. Identität ist nicht zwangsläufig vorhanden. Identität ist Werden, ist Prozess. Von Identität lässt sich nicht im Singular sprechen. Identität ist Vielheit, besser noch Vielfalt. Identität entsteht durch Offenheit, mehr noch durch Protest, durch Handeln.

Die Humanisierung der Identität wäre die Forderung nach komplexer Identität. Identität entsteht und wächst durch Differenz. Identität folgt der Konstruktion und De-Konstruktion.

Der Komponist Mauricio Kagel brachte einst das Wort von der „fragmentarischen Identität“ ein. Für Bloch steht hinter dem „Ich“ das Werden zum Wir. Die virtuelle Identität ist nur vordergründig ein „Ich“. Tatsächlich fügt sich das „Ich“ vom Vorgestern zum „Ich“ vom Gestern hinein in das „Ich“ vom Morgen als ungleichzeitiges „Wir“ des Jetzt. „Identität in der Virtualität“ heißt vordergründige Gleichzeitigkeit bei tatsächlicher Ungleichzeitigkeit.

Nicht umsonst rief der biblische Daniel den Engel Gabriel zu interpretierender Assistenz herbei, um zurückliegend Unabgegoltenes im Gesicht des Gegenwärtigen für den hörend Sehenden erkennbar zu machen: „Lege diesem das Gesicht aus, damit er’s versteht.“