Verstrickt ins Hier

(Foto: © Welf Schröter)

Im Jahr 1926 wurden sie Freunde, der Soziologe und Geschichtsphilosoph Siegfried Kracauer und der Philosoph Ernst Bloch. Während „Krac“ – wie ihn später Karola Bloch freundlich nannte – sich mehr dem Frankfurter Institut für Sozialforschung um Theodor Adorno annäherte, wandte sich Bloch mehr dem Marxschen Denken und dem Materialismus zu. Verbunden hatte beide Denker das Ringen um Entzauberung und Entmythologisierung im gesellschaftlichen Diskurs.

Im Jahr der beginnenden Freundschaft zu Ernst Bloch schreibt Kracauer 1926 an diesen: „Gerade das Entschleiern und Bewahren zusammen erscheint auch mir als das von einem letzten Aspekt aus Geforderte, und als großes Motiv dieser Art von Geschichts-Philosophie würde ich das Postulat ansprechen, daß nichts je vergessen werden darf und nichts, was unvergessen ist, ungewandelt bleiben darf.“

Zu Ernst Blochs 80. Geburtstag am 8. Juli 1965 pointiert Kracauer: „Daher meine Überzeugung, daß einer, der nicht verstrickt ins Hier ist, niemals in ein Dort gelangen könne.“

Kracauer – wie Bloch aus einem jüdischen Elternhaus kommend – flieht vor den Nazis nach Amerika. Auf eigene Weise hatte er die Gründe für die Machtbasis Hitlers vor allem in der sich verändernden ökonomischen Lage der Angestellten analysiert. Anders als Bloch will Kracauer nach 1945 nicht mehr in das Nachkriegsdeutschland zurückkehren. Er bleibt in den USA.

Doch die Freundschaft zwischen Siegfried und Lili Kracauer sowie Ernst und Karola Bloch bleibt herzlich und humorvoll leicht. Schmunzelnd formuliert Karola Bloch in ihrem Brief vom 21. Juni 1962 Richtung USA: „Die Männer habens besonders leicht – sie altern ja gar nicht.“

Am 8. Februar 2014 jährt sich Siegfried Kracauers Geburtstag zum 125. Mal.

(Näheres zu Kracauer siehe: http://www.polunbi.de/pers/kracauer-01.html)

We shall overcome

Ein Denkender (Foto: © Welf Schröter)

Lange bevor die Rolling Stones mit ihren Songs „Streetfighting Man“ und „Sympathy for the Devil“ die braven Tanzschulen durcheinander brachten, lange bevor John Lennon mit den Beatles „Revolution“ sang, lange bevor The Cream, Jerry Garcia und die „Greatful Dead“, Miriam Makeba, Janis Joplin, Jimi Hendrix, MC5, Frank Zappa und die „Mothers of Invention“, Bruce Springsteen, John Lee Hooker, Bob Dylan („Blowin’ in the Wind“) mit ihren politisch-lyrisch-musikalischen Botschaften ihre Zuhörer inspirierten und aufrüttelten, war jener Sänger mit Leidenschaft und politischer Parteilichkeit sowie seinen selbst geschriebenen bzw. bearbeiteten Songs solidarisch bei jenen, die seine Stimme brauchten: Pete Seeger, brillanter Musiker, aufrührerischer Songwriter, Gewerkschafter und Menschenfreund sang für Benachteiligte, an den Rand der Gesellschaft Gedrängte, streikende Arbeiter, rebellierende Schwarze, Umweltschützer, Kriegsgegner, Pazifisten. Seine Waffen waren sein Banjo, seine Stimme, sein Verstand und sein Herz.

Sein künstlerischer Kommunismus kam Ernst Blochs „Aufrechtem Gang“ sehr nahe. Sein „Noch-Nicht“-Song – auf der Basis eines alten Gospelstücks – „We shall overcome“ wurde in seiner Version und der Neuaufnahme durch die Sängerin Joan Baez zum Leitmotiv der Jugendrevolte der sechziger und siebziger Jahre gegen den Vietnamkrieg, gegen Rassismus und Unterdrückung. Ähnlich wie Ernst Bloch wurde Pete Seeger vor den McCarthy-Ausschuss gegen unamerikanische Umtriebe zitiert. Ein langes Radio- und Medienverbot und ein Urteil über zehn Jahre Gefängnis machten ihn bei den späteren Berkeley-Rebellen erst richtig populär. Für ihn galt ein Motto, nach dem Karola Bloch, – die zeitweise ebenso wie Pete Seeger in der amerikanischen KP war –, ihr Leben ausrichtete: „Ich gehe zu jenen, die mich brauchen, nicht zu denen, die ich brauche.“

Einer von Pete Seegers bekanntesten Protestsongs „Where have all the Flowers gone“ wurde für viele junge Männer Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre in Europa zu einem markanten Aufruf, sich pazifistisch dem Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern. Seine nüchterne unprätentiöse Stimme, sein bescheidenes Auftreten, seine Klarheit der Aussage waren für junge Ohren im Lande des Heintje- und Roy-Black- und Egerländer-Kitsches eine Initialzündung, die konsequent hinüberleitete zu den bitteren bluesnahen Antikriegsstücken von Jimi Hendrix wie „The Star Spangled Banner“ und „Machine Gun“.

Pete Seeger ist am 27. Januar 2014 im Alter von 94 Jahren gestorben. Er wollte mit seinem Leben der Gerechtigkeit mehr Einfluss verschaffen. Er forderte von seinen Zuhörenden vor allem eines: Mut zur Einmischung, denn „This Land is your land“ (Pete Seeger). Dieser Imperativ ist mit seinem Tod nicht erloschen.

Warum Mandela nicht nach Tübingen kam

Textauszug Karola Bloch (Sehnsucht I, 142)

Wie Martin Luther King hatte auch Nelson Mandela einen Traum, einen Tagtraum. Mandela sah eine afrikanische Gesellschaft entstehen, die er hoffend als „Regenbogen-Nation“ bezeichnete. Ähnlich wie Kings Traum von der gemeinsam-wechselseitigen Emanzipation von Schwarz und Weiß in den USA.

Mandela war Jurist. Er war in seiner Wahrnehmung den gesellschaftlichen Prozessen weit voraus. Er wollte Selbstbefreiung hin zu einer gleichberechtigten Versammlung der Citoyennes und Citoyens in einem Staat der gesicherten demokratischen Rechte aller. Sein Tod im Alter von 95 Jahren am 5. Dezember 2013 hinterlässt zwar eine errungene politisch verankerte Richtung der Entwicklung, aber dennoch mit großem unabgegoltenem „Noch-Nicht“:  „Ein Mensch, der einem anderen die Freiheit raubt, ist ein Gefangener des Hasses. […] Der Unterdrückte und der Unterdrücker sind gleichermaßen ihrer Menschlichkeit beraubt.“ (Aus seiner Autobiografie)

Jahre und Jahrzehnte gab es ein weltweites Ringen um die Freilassung des Bürgerrechtlers und bekanntesten Mitglieds des African National Congress. Auch in Tübingen sprachen sich viele Personen für seine Befreiung aus. Zu ihnen zählte unter anderem die Architektin Karola Bloch: „Die verbrecherische Regierung dieses Landes, den Schöpfern der Apartheid, muss von allen rechtschaffenen Menschen geächtet werden.“

Im Juni 1985 – anlässlich des 25. Jahrestages der blutigen Niederschlagung des schwarzen Aufstandes von Sharpeville 1960 – brachte ein Doktorand der Geschichtswissenschaft den Antrag in den Senat der von Studierenden in „Ernst-Bloch-Universität“ umbenannten Alma Mater ein, den bekanntesten Juristen Südafrikas, den jahrzehntelang mit der Häftlingsnummer 46664 gefangen gehaltenen Rechtswissenschaftler Nelson Mandela, an die Universität Tübingen einzuladen, ihn mit einer Ehrung der juristischen Fakultät zu begrüßen und ihm den Campus als Ort der öffentliche Rede anzubieten. Diese symbolische Einladung an einen Inhaftierten sollte – im 100. Geburtsjahr Ernst Blochs – ein Zeichen zivilgesellschaftlicher Verbundenheit und Solidarität setzen. 

Der damalige Präsident der Hochschule, Adolf Theis, zugleich Vorsitzender des Senats, schloss sich diesem Anliegen grundsätzlich an. Das Gremium beschloss mit Mehrheit, die öffentliche Einladung an Nelson Mandela auszusprechen und Vertreter der Professorenschaft zu beauftragen, die Einladung zu überbringen.

Doch die Vertreter der damaligen Professorenschaft stießen auf so viele eigene Hemmnisse, dass es nie zur Einladung an Nelson Mandela kam. So mancher wollte damals in ihm noch immer einen Gewalttäter und Terroristen sehen. Die 508-jährige Universität Tübingen hatte eine große Chance der Selbstkorrektur verpasst.

Nelson Mandelas Tagtraum ist derweil von einem afrikanischen zu einem globalen Tagtraum geworden. Dessen Realisierung erfordert Zivilcourage und solidarisches Agieren. Noch heute.

„Ich komme aus der Hölle“

Foto: © Welf Schröter

Mit diesen Worten eröffnete Fritz Bauer einen seiner eindrücklichen öffentlichen Vorträge, die er in einer Zeit hielt, als in Frankfurt der Auschwitz-Prozess lief. Fritz Bauer, der Citoyen, der Bürgerrechtler und Rechtsstaatler, der Radikaldemokrat und hessischer Generalstaatsanwalt hatte es geschafft, dass am 20. Dezember 1963 der erste große Auschwitz-Prozess gegen die KZ-Mörder begann, beginnen konnte. Die Süddeutsche Zeitung nennt ihn heute – 50 Jahre danach – einen jüdischen Deutschen, der nicht Rache sondern Recht wollte.

Bedrängt, bedroht und beharrlich bereitete Bauer gegen die damalige Richterschaft die Durchführung des Prozesses vor.  Er wollte Recht, er wollte Wahrheit, er wollte Wissen. Mit seinem Prozess schrieb er Justizgeschichte. Mehr noch, er war davon überzeugt, dass ohne Kenntnis des Holocaust und ohne Auseinandersetzung mit der Shoah sich ein selbst tragendes wirklich demokratisches Gemeinwesen dauerhaft nicht halten könne. Fritz Bauer schrieb damit ein Stück Demokratiegeschichte.

„Ich komme aus der Hölle“. Mit diesen Worten beschrieb er die Aussagen und Schilderungen der Überlebenden des KZ’s. Die Zeugen erzählten erstmals öffentlich in einem bundesdeutschen Nachkriegsgerichtssaal das unbeschreibliche Grauen des Holocaust. Die Sätze der Menschen, die nach Jahren erstmals wieder mit ihren Peinigern in einem Raum waren, offenbarten den Medien Leidensgeschichten, die schon von den Journalisten, Staatsanwälten und Zuhörern kaum auszuhalten waren. Die Last der Schilderungen empfand Fritz Bauer als „Hölle“. Doch um wieviel schlimmer war es für die Überlebenden, die diese Schrecken unentrinnbar ihr Leben lang als gleichzeitig ungleichzeitige Erfahrung in sich trugen, ertrugen und oft nicht mehr ertrugen. Fritz Bauer gab den Opfern einen Teil ihrer Würde zurück.

Im Juli 1968 skizzierte ihn die ZEIT anlässlich der unerwarteten Nachricht seines Todes posthum mit den Worten: „Mit seinem über die Jahre hinaus zerfurchten Gesicht, seinen flammenden, weißen Haaren, seiner rauhen, stoßartigen Stimme wirkte er auf den ersten Blick wie ein Patriarch, ein Prophet der Aufklärung: etwas von Ben Gurion, etwas von Ernst Bloch, ganz ins Pragmatische gewendet.“ Er war ein Verfechter der Verteidigung der Würde des Menschen. Darin war er sich mit Karola Bloch einig.

„Es möchte unsere kriminalrechtliche und kriminal-politische Aufgabe sein, zunächst einmal die autoritären Schlacken vergangener und jüngster Jahrzehnte zu beseitigen, um aus Demokraten des Wortes Demokraten der Tat zu werden.“ (Fritz Bauer 1958)

Heute – 50 Jahre nach dem Auschwitz-Prozess – möchte man innehalten, sich zurücklehnen und sagen, Fritz Bauers Arbeit wurde von seinen politischen und juristischen Enkeln erfolgreich zu Ende geführt. Doch das Unaufgeklärte, Ungerichtete und ungleichzeitig Unabgegoltene ist noch immer präsent und wirksam. Die „Zweite Generation“ und die „Dritte Generation“ der Shoah-Getroffenen ringen noch immer um Wahrheit und um weitere Brocken der Würde.

Dagegen wächst bei so manchem Vertreter der sonst immer so aufklärerisch-aufmerksamen Neuen Linken eine „moderne“ Haltung des akademischen Schlussstrichs. Die Thematisierung der Shoah sei unwissenschaftlich geworden. Denn: Damit mache man keine Karriere im Wissenschaftsbetrieb.

Der Wissenschaftler und Jurist Fritz Bauer wußte dies auch schon. Aber genau deshalb tat er, was er tat.

Vierte industrielle Revolution?

Henning Kagermann (Foto: © Welf Schröter)

Er ist von Hause aus habilitierter Physiker, war Vorstandssprecher der SAP AG und übt heute das Amt des Präsidenten der Deutschen Akademie für Technikwissenschaften (acatech) aus. Prof. Dr. Henning Kagermann folgt einem besonderen Traum, der den Charakter der Vision schon hinter sich gelassen hat. Er plädiert für die „vierte industrielle Revolution“ – auch „Industrie 4.0“ genannt – bei der eine neue Qualität der Automation in einer „intelligenten Fabrik“ neuen Typs realisiert werden soll.

Grundlage sei die Option der „Vernetzung von allen“ (Menschen) und der „Vernetzung von allem“ (Sachen bzw. Geräte) mit Hilfe sogenannter physisch-virtueller Umgebungen (Cyber-Physical Systems). Kagermann sieht hierin die „Veredelung des Bestehenden“. Er weist das Technikbild der „menschenleeren Fabrik“ vehement als falsch zurück, kritisiert den alten zentralistischen Denkansatz und setzt auf die kommende Bedeutung des Individuums in dezentralen Fertigungsprozessen.

Die neuen soziotechnischen Systeme bedürfen seiner Meinung nach einer allseitigen Partizipation der Arbeitenden, da sonst die neue dezentral ausgerichtete Welt der Produktion nicht handhabbar wird. Es bedarf der Personalisierung und Individualisierung. Daher sucht er den Dialog mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, Betriebsräten und Gewerkschaften. Vor mehr als 200 eher honoratiorengleichen Repräsentanten der Technikforschung in Stuttgart – darunter nur zwei Gewerkschafter – würdigte er anlässlich der Verleihung des „Forschungspreises Technische Kommunikation 2013“ der Alcatel-Lucent Stiftung die Rolle und Haltung der IG Metall. Die Gewerkschaft wolle die positive Gestaltung von „Industrie 4.0“, um eine neue Autonomie der Beschäftigten durchzusetzen. Umbau als Chance für Interventionen.

Kagermann geht auf die Gewerkschaft zu und unterstreicht, dass Komplexität und Komplexitätsreduzierung operative Akteurscluster benötigen, dass prozessbezogen – von Anfang an – eine Strategie der „Akzeptanz by design“ erforderlich ist. Kagermann will heraus aus der „Komplexitätsfalle“, will bestehende Technik verfahrenstechnisch optimieren, will „Industriekonvergenz“ vorantreiben und setzt auf die „wandlungsfähigen Produktionsstätten“. Mutig spricht er von „disruptiver Innovation“ und der Notwendigkeit „kreativer Zerstörung“.

Kagermanns Angebot zum Gestaltungsdialog reflektiert den aufgeschlossenen und modernen Flügel gegenwärtiger Industriepolitik. Dennoch stecken in seinem Denken noch massive Reste eines traditionellen Fortschrittsbegriffs, der auf Technologie und Infrastruktur setzt, der technikzentriert konzipiert und prozess- statt menschenzentriert argumentiert. Deutlich wird dies, wenn er die Potenziale der Kommunikation zwischen Maschinen hervorhebt und noch erkennbarer, wenn er postuliert: „Roboter und Menschen arbeiten in einem sozialen Netzwerk.“

Hier liegt die Herausforderung für den Diskurs „Arbeitswelt trifft Philosophie – Philosophie trifft Arbeitswelt“ im Jahr 2014, der vom Forum Soziale Technikgestaltung organisiert und vom „bloch-blog“ begleitet wird. Wie sähe ein menschenzentriertes Umbauszenario der vierten industriellen Revolution aus? Welcher Fortschrittsbegriff ist vonnöten? Der Gestaltungsansatz der IG Metall verdient Unterstützung.

Zweifellos bietet hierfür die Blochsche Philosophie wesentliche Kriterien. Nicht nur die Mehrschichtigkeit der individuellen und gesellschaftlichen Zeiterfahrung, die Bloch mit dem Begriff „Ungleichzeitigkeit“ besetzt, sondern neben der „Allianztechnik“ kann auch sein Motiv des „Multiversums“ als methodische Lesart zum Handwerkszeug des „social design“ in „Industrie 4.0“ werden. Für Bloch bietet technischer Fortschritt unter anderem dann einen sozialen und gesellschaftlichen Fortschritt, wenn damit individuelle Freiheit erweitert und Entfremdung verringert werden.

Büchner zum 200sten

Es ist bemerkenswert, wenn in der veröffentlichten Meinung an einen jungen Rebellen erinnert wird, der bereits im Alter von 23 Jahren starb und doch bis heute die Köpfe bewegt. Der Mann war seiner Zeit voraus. Man könnte auch sagen, ein Teil seines schriftstellerischen Handelns war geradezu vorzeitig.

Vor 200 Jahren wurde am 17. Oktober 1813 Georg Büchner geboren. Mit seinem „Hessischen Landboten“ rief er die Bauern zur Revolution gegen Adel und Bürgertum auf. Er musste flüchten.

Wirkungsvoller als seine politischen Aktivitäten bleiben von ihm seine dramatischen Werkleistungen. Dies gilt für „Woyzeck“, mehr aber noch für sein fast dialektisches Bühnenstück „Dantons Tod“, das er mit 22 Jahren schrieb.

Wie sprach doch Danton im zweiten Akt gegen Robespierre: „Ich will lieber guillotiniert werden als guillotinieren lassen. Ich hab es satt; wozu sollen wir Menschen miteinander kämpfen? Wir sollten uns nebeneinander setzen und Ruhe haben. Es wurde ein Fehler gemacht, wie wir geschaffen wurden; es fehlt uns etwas, ich habe keinen Namen dafür (…).“

Einhundert Jahre später griff Bert Brecht in seiner Oper „Mahagonny“ das Motiv auf und formulierte jenen kurzen einschlägigen Satz „Etwas fehlt“, der für Ernst Bloch wie auch Jan Robert Bloch zu einem Leitmotiv des Denkens in konkreten Utopien wurde.

Georg Büchner legte seinem Antihelden Danton die pathetische Leidenschaft des ungleichzeitigen Revoltierens in den Mund: „Die Sündflut der Revolution mag unsere Leichen absetzen, wo sie will; mit unsern fossilen Knochen wird man noch immer allen Königen die Schädel einschlagen können.“ Doch bitter ließ er ihn auf der Bühne reflektierend geradezu existenzialistisch enden: „Die Welt ist das Chaos. Das Nichts ist der zu gebärende Weltgott.“

 

Erich Loest nahm sich das Leben

Um die Nikolaikirche in Leipzig drehten sich Erich Loests Gedanken. (Foto: © Welf Schröter)

Im Alter von 87 Jahren hat sich der Schriftsteller und langjährige Vorstand und Vorsitzende des Verbandes deutscher Schriftsteller (VS) Erich Loest das Leben genommen. Von schwerer Krankheit belastet stürzte er sich in Leipzig aus dem Fenster der Universitätsklinik. Einige Jahre zuvor verkündete er das Ende seiner schriftstellerischen Tätigkeit, obwohl er täglich weiterhin seine Gedanken aufschrieb.

Loest war durch den Zweiten Weltkrieg Kommunist geworden und trat als junger Mensch in die SED ein. Er setzte Hoffnungen auf die DDR. Die gewaltsame Niederschlagung des Aufstandes am 17. Juni und der Einmarsch der Panzer 1956 gegen die ungarische Revolution entzweiten ihn vom Staatsozialismus, der doch nur vorgab, einer zu sein. In einer Zeit, als die SED gegen Ernst Bloch, Karola Bloch und Wolfgang Harich wie auch gegen Gerhard Zwerenz massiv vorging, wurde auch Erich Loest zu den „Staatsfeinden“ um dem vermeintlichen „Bloch-Kreis“ gerechnet. Er bezahlte dies mit sieben Jahren Zuchthaus in Bautzen. Erich Loest verliess 1981 verbittert die DDR.

Aber er blieb ein aufrechter Rebell, Kritiker, Mahner und Ankläger unmenschlicher und undemokratischer Zustände. Seine Sympathien galten den Montagsdemonstrationen und dem „Neuen Forum“. Erich Loest sah eine seiner wichtigen Aufgaben in einem ehrlichen Dialog mit der polnischen Gesellschaft. Im Gespräch zwischen polnischen und deutschen Schriftstellern suchte er Annäherung ohne Vergessen.

Die Leipziger Schriftstellerin Regine Moebius fasste die Arbeit Loests in eigene Worte: »Wir alle verlieren mit Erich Loest einen Schriftsteller und Kulturpolitiker, der die persönlichen gesamtdeutschen Erfahrungen vor dem Mauerbau, während der Zeit der problematischen Kontakte durch eine ideologische und reale Mauer hindurch zum Anlass genommen hat, konstruktiv mit einer neuen Chance umzugehen und anstehenden Dialogen nicht auszuweichen«.

In den achtziger Jahren reiste er auch nach Tübingen. Er schätzte das Werk Ernst Blochs und die Lebensleistung Karola Blochs, mit der er freundschaftlich verbunden war und die er in Tübingen wiedertraf, wie er es in einem Interview mit Welf Schröter damals ausgiebig erläuterte. Mehrfach war er auf Buchmessen zu sehen, wo er alte und neue Freunde fand. Sein Leipzig, seine Achtung vor den Blochs und sein minutiöses Gedächtnis waren stets präsent. Erich Loest war ein Schriftsteller, der in seinen Werken dem Blochschen Denken verwandt blieb.

Vor 25 Jahren: „Major Tellheim“ besucht sein „Hauptquartier“

Das Grab Jürgen Tellers auf dem Leipziger Südfriedhof. Foto: © Welf Schröter

Nach Jahren der Erniedrigung, Unterdrückung und Verfolgung durch die StaSi konnte der Philosoph Jürgen Teller 1988 zum ersten Mal die DDR für einen Besuch verlassen. Er überschritt das Rentenalter und Freunde verhalfen ihm zur Mitgliedschaft im Schriftstellerverband. Die Tür durch die Mauer öffnete sich.

Unter dem Decknamen „Major Tellheim“ hatte er jahrelang seinem Doktorvater und späteren Freund Ernst Bloch – selbstgewählter Deckname „Marcion“ – in zahlreichen Briefen literarisch verschlüsselt geschrieben. Jürgen Teller war und blieb Bloch-Schüler. Für ihn war der Ort, wo sich Ernst und Karola Bloch aufhielten, das „Hauptquartier“ der gemeinsamen Sache, der Umwälzung und Demokratisierung der Gesellschaft.

In Tübingen traf er „Polonia“ – alias Karola Bloch –, die er von seiner „Minna von Barnhelm“ – alias Johanna Teller, der Galeristin und Bauhausanhängerin – grüßte. Doch wirklich angekommen war er erst, als er am Grab seines philosophischen Lehrmeisters stand. Da sprach er davon, dass noch so viel unabgegolten war, noch so viel zu leisten sei. Die „Heimat“ sei noch nicht erreicht.

In dem Band „Briefe durch die Mauer“ wird der innige und rebellische Dialog zwischen der Opposition Ost in Leipzig und der Opposition West in Tübingen lebendig. Jürgen Teller ging aus der deutsch-deutschen Wende nicht als „Gewinner“ hervor. Sein undogmatisch-philosophisches Denken um Marx, Giordano Bruno, Goethe und vor allem Bloch war an der Leipziger Universität vor dem Mauerfall so unbeliebt wie danach. Wenn auch nach 1989 aus anderen Gründen.

Es ist an der Zeit, an Jürgen Teller zu erinnern. Am 12. September 2013 wäre er 87 Jahre alt geworden. Er starb am 10. Juni 1999.

 

Entgegenständlichung von Arbeit

Foto: © Welf Schröter

Im 19. Jahrhundert hatte sich ein kritischer Kopf namens Karl Marx mit der Bedeutung der Arbeit für den Menschen befasst. In deutlicher Klarheit schrieb er: „Das praktische Erzeugen einer gegenständlichen Welt, die Bearbeitung der unorganischen Natur ist die Bewährung des Menschen als eines bewußten Gattungswesens …“ Diesen noch engen Begriff von Arbeit begann Eberhard Braun, ein Schüler des Philosophen Ernst Bloch, mehr als hundert Jahre später in seinen „Grundrissen einer besseren Welt“ zu hinterfragen: „Was heißt hier Arbeit?“ Wie hängen materielle Bearbeitung der Natur und Bewußtseinsbildung zusammen?

Braun geht über Marx hinaus und sieht in der Arbeit die „Produktion eines bestimmten gesellschaftlichen Verhältnisses“. Braun sucht die gesellschaftliche Dimension, wenn er argumentiert: „Arbeit ist nicht nur Stoffwechsel, Aneignung der äußeren Natur, sie stellt nicht nur einzelne lebensnotwendige Produkte her; insofern sie dies tut, produziert sie zugleich auch ein bestimmtes gesellschaftliches Verhältnis, einen bestimmten historischen Lebenszusammenhang …“

Dieser Kernsatz Braun’schen Denkens lässt sich nun auf eine aktuelle Transformation des Charakters von Arbeit übertragen: Welche Lebenszusammenhänge, welche gesellschaftlichen Verkehrsformen wird die fortschreitende Dematerialisierung und Virtualisierung eines wachsenden Teiles der Erwerbsarbeit nach sich ziehen? Wie wirkt sich die zunehmende Entgegenständlichung von Arbeit auf die Identitätsbildung und die soziale Realität des Menschen heute aus?

Alte Bewußtseinsschichten mehrerer Generationen wirken in den heutigen arbeitenden Generationen fort. Das Herstellen eines materiellen Gegenstandes gibt dem schaffenden Individuum Genugtuung und Selbstbewußtsein. Nun aber in Zeiten von „Neuen Infrastrukturen der Arbeit“, von „Industrie 4.0“ und von „Cyber-Physical Systems“ wird die Genugtuung und das Selbstbewußtsein mehr und mehr aus virtuellen Arbeitsumgebungen erwachsen müssen. Die „gesellschaftlichen Verhältnisse“ beginnen, schrittweise auf dem Zusammenwachsen – auf der Konvergenz – von Materiellem und Virtuellem zu basieren. Die Produktionsformen sind im Umbruch. Aus der alten Gemeinschaft wird eine neue Sozialität entstehen. Atomisiert oder community-orientiert?

In diesen Zeiten der Ungleichzeitigkeiten wird das Denken Eberhard Brauns, seine politische Philosophie der Hoffnung, wieder aktuell.

Ungleichzeitigkeit der digitalen Demokratie

Foto: © Welf Schröter

Die Alltagswirkung dessen, was mancher Wissenschaftler euphemistisch „Wissensgesellschaft“ nennt, dringt in die Lebenswelt fast aller Bürgerinnen und Bürger ein. Im virtuellen „Datenschutzforum“ hat sich jüngst Peter Schar, Bundesbeauftragter für Datenschutz und die Informationsfreiheit, zu Wort gemeldet:

„Unabhängig von dem aktuellen „Skandal“ hat die Informationstechnik schon heute jeden Arbeitsplatz, jeden Haushalt und große Bereiche unserer Freizeit erreicht. PCs, Tablet-Computer und Smartphones sind nicht einfach nur neue Werkzeuge der Kommunikation, die ansonsten folgenlos bleiben: Die Integration von Chips in alle möglichen Gegenstände, die umfassende Vernetzung aller möglichen Aktivitäten und die leichte Zugänglichkeit sozialer Netzwerke hat den Alltag einer wachsenden Zahl von Menschen dramatisch verändert und beeinflusst damit nicht nur unser Verhalten, sondern auch unsere Wahrnehmung der Realität. Und die damit verbundenen Risiken – nicht nur für die Privatsphäre – werden immer deutlicher.“ (August 2013)

Der politische Kommentator Sascha Lobo hat parallel in seiner Kolumne in Spiegel Online zu Recht auf die Ungleichzeitigkeit der Entwicklung der digitalen Gesellschaft hingewiesen:

„Das politische Empfinden zur digitalen Sphäre breitet sich schmerzhaft langsamer aus als die Nutzung des Internets. Die Werte einer digitalen Demokratie entstehen nicht von allein, nur weil eine demokratische Gesellschaft digitaler wird.“

Die technischen „Innovationen“ strukturieren und verändern die materielle und zivilgesellschaftliche Basis schneller als das Lernen der Mitglieder dieser Gesellschaft die Demokratisierung der Verkehrsformen bewirken kann. Es scheint als ob Blochs „docta spes“ (belehrte Hoffnung) noch immer belehrte Erfahrung und belehrende Enttäuschung voraussetzt.